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Jenseits der Wälder - Trekking in Transsilvanien

(Karpatentour Juli 1993 – Rumänien)

Inhalt

  1. Eine Fahrt mit Hindernissen
  2. Ich gehe ins Kloster
  3. Canyoning oder Schluchtenwandern
  4. Irrwege im Dunkeln
  5. Ins Reich des Höhlenbären
  6. Padiș im Nebel
  7. Räuberfelsen
  8. Abstieg
  9. Informationen

Leider konnte ich nicht alle Etappen der Wanderung auf der Karte rekonstruieren.

Es gab zwei Gründe, warum ich noch einmal in den Westgebirgen Siebenbürgens wandern wollte. Einerseits hatte mich die Neugier gepackt. Ich wollte wissen, was sich in 5 Jahren in Rumänien verändert hatte. Andererseits gab es in Deutschland Anfang der 90er Jahre so gut wie keine Informationen über die rumänischen Karpaten. Das, was es damals in der DDR gab, existierte nicht mehr („Komm mit“) und etwas Aktuelles war nicht aufzutreiben. Im Gegenteil, unsere Medien überschlugen sich gegenseitig im Verbreiten von Horrormeldungen über dieses Land. Von Verbrechen des Ceaușescu-Clans und verwahrlosten Kinder- und Altenheimen über Korruption, gewaltsamen Zusammenstößen von Rumänen mit Ungarn und verlassenen Dörfern. Ich fragte mich: Kann man in Rumänien überhaupt noch wandern gehen? Ich wollte mir selbst ein Bild machen. Und so beschloss ich Mitte Juli, meinen Rucksack zu packen und noch einmal dort wandern zu gehen, wo ich schon vor 5 Jahren unterwegs war – im Vlădeasa-, Bihor- und Trascău-Gebirge der siebenbürgischen Westgebirge. Die Gegend war mir vertraut, ich kannte mich aus.
Ich kaufte mir einen Fahrschein nach Sighișoara und fuhr – wie vor fünf Jahren – von Berlin Lichtenberg um 23:51 Uhr mit dem Zug in Richtung Karpaten.

1. Eine Fahrt mit Hindernissen

Schon während der Fahrt konnte ich die Veränderungen förmlich greifen. Waren die Züge in Richtung Ungarn, Rumänien oder Bulgarien vor der Wende noch maßlos überfüllt (oft lagen die Leute in den Gängen herum), hatte ich jetzt das Gefühl, allein zu reisen. Mir war es recht. Was mir gar nicht so recht war: Ich hatte jetzt zwar die Deutsche Mark – aber kein rumänisches Geld mehr. Und an der Grenze war es nicht mehr möglich so wie früher seine Wertecoupons einzulösen. Aber das Problem wollte ich in Klausenburg lösen. Notfalls musste ich halt später weiter in Richtung Bologa fahren.
Die Grenzkontrolle nach Rumänien dauerte noch genauso lang wie früher. Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Draußen ist es stockfinstere Nacht, doch schlafen kann ich auch nicht richtig. Wir halten, schummriges Licht fällt auf den Bahnsteig. Auf den Bänken lungern Zigeuner herum. Arad lese ich auf einem Schild. Irgendwie hieß der Ort nach der Grenze damals anders. Unsicherheit macht sich breit, irgendetwas stimmt nicht. Ich besaß keine detaillierte Reiseverbindung. Dieser Zug, in dem ich sitze, fährt zwar nach Bukarest jedoch nicht über Klausenburg, soviel ist mir klar. Ich muss irgendwo umsteigen.
Der Schaffner bestätigt meine Befürchtungen. Soweit ich ihn verstehe, muss ich demnächst aussteigen und auf den Anschlusszug nach Klausenburg warten. Nur wo? Das hatte ich nicht gerafft. Es war mir auch egal. Was soll ich mitten in der Nacht auf einem gottverlassenen Bahnsteig herumhängen ohne einen Plan, wie es weitergeht? Das will ich mir nicht antun. Ich beschließe, im Zug sitzen zu bleiben und zu warten. Entweder der Schaffner schmeißt mich raus oder ich erreiche einen Bahnhof zu einer passableren Zeit. Gesagt getan. Ich passe nun genau auf, wie die Orte heißen, durch die ich fahre. Deva, Simeria, Alba Iulia, Blaj, Mediaș erkenne ich. In Sighișoara schnappe ich meinen Rucksack und verlasse den Zug, bis zur Morgendämmerung ist es nicht mehr lang.
Im Schalterraum flackert eine Leuchtstofflampe über einem vergitterten Fenster, hinter dem sich der Fahrkartenschalter befindet. An einer Tafel an der Wand stehen die Zugverbindungen, der nächste Zug geht in Richtung Klausenburg, soviel verstehe ich. Eine Handvoll Leute stehen im Wartebereich herum. Es dauert nicht lang und hinter dem Schalterfenster bewegt sich etwas. Die Menschen bewegen sich auch – in Richtung Schalter. Ich folge ihnen. Denn ich brauche jetzt einen Fahrschein. Ich komme an die Reihe. Da ich nicht weiß, ab wann mein Fahrschein wieder gilt, sage ich einfach „Cluj Napoca“. Die Dame stempelt etwas auf ein kleines Pappschild, mein Fahrschein. Ich schiebe 10 DM durch das Loch in der Scheibe. Stille. Sie schaut mich groß an, ich grinse und zucke mit den Schultern. Die Leute hinter mir fragen mich etwas, was ich nicht verstehe. Dann steckt die Frau das Geld ein und schiebt mir den Fahrschein zu. Mehr wollte ich nicht, vermutlich hätte ich für 10 Mark einmal um Rumänien fahren können, aber das ist mir egal. Zufrieden klettere ich in den einfahrenden Zug. Ich bekomme keinen Sitzplatz, dafür einen recht guten Stehplatz vor der Waggontür. Mittlerweile ist es draußen hell. So kann ich sehen durch welche Orte wir fahren.
Wieder geht es durch Mediaș, Blaj, Teiuș. Teiuș? So hieß doch der Ort, wo wir vor 5 Jahren unsere Karpatentour beendeten. Warum die Tour nicht andersherum laufen denke ich mir. Ich reiße die Waggontür auf und springe aus dem Zug. Es ist 5:30 Uhr.

2. Ich gehe ins Kloster

Nebel liegt über dem Ort und es sieht nach Regen aus. Hinter dem Fahrkartenschalter regt sich schon etwas. Mal schauen, ob ich herausbekomme, wann ein Bus in Richtung Râmeț-Kloster geht. Antwort negativ. „Nu, nu autobuz“ sagt die Frau hinter dem Fenster und schüttelt mit dem Kopf. Das glaube ich nicht so recht, vielleicht hat sie mich nur nicht richtig verstanden. Ich wuchte meinen Rucksack auf den Rücken und laufe erstmal los. Langsam wacht das Dorf auf. Leute begegnen mir und grüßen „Bună ziua“ (Guten Tag). Ich frage einen Opa nach dem Weg zum Kloster. Er erzählt mir etwas, ich verstehe ihn nicht. Dann nimmt er einen Stock und malt eine 8 auf den Boden, zeigt auf seine Uhr und sagt. „mașină“. Jetzt dämmert's. Um 8 Uhr fährt also der Bus hoch zum Kloster. Das wäre in zwei Stunden. Plötzlich erinnere ich mich, dass ich ja immer noch kein Geld habe. Im Rucksack steckt noch etwas Kaffee und Pfeffer. Nur bin ich mir nicht sicher, ob die Zahlungsmittel heute auch noch akzeptiert werden. Außerdem will ich nicht so lange hier herumstehen und setze meinen Weg fort. Wenn der Bus kommt, kann ich ja immer noch versuchen mitzufahren.
Ich habe Hunger, Zeit zu frühstücken. Im Rucksack habe ich noch ein paar Reisebrote. Ich krame die Dinger raus, da hält neben mir ein Traktor. „Mănăstire“, fragt der Fahrer. „Da, da“, antworte ich und nicke. Er bedeutet mir mit einer Kopfbewegung, auf dem Hänger Platz zu nehmen. Ruckzuck bin ich auf der Ladefläche und mache es mir zwischen abgesägten Obstbäumen und Bauschutt bequem.
Wir erreichen das Kloster zeitgleich mit dem Bus. Hier hat sich nicht allzu viel verändert. Lediglich die alte Klosterkirche, die vor 5 Jahren angehoben wurde, steht nun wieder fest und sicher auf ihrem Fundament. Über den Klosterhof laufen Nonnen, ganz in Schwarz gekleidet.
Ich hatte gehört, dass man im Kloster übernachten könne. Das Problem besteht nun lediglich darin, den „Gottestöchtern“ mein Anliegen mitzuteilen.
„Germane“, fragt mich eine. Ich bejahe. Sie verschwindet und kommt kurz darauf in Begleitung einer Jüngeren zurück. Diese spricht deutsch. Die Gelegenheit nutzend, frage ich nach einer Unterkunft. Nach zwei fast schlaflosen Nächten im Zug hält sich mein Drang, etwas zu unternehmen, in Grenzen. Die Nonne verschwindet wieder. Mit einem Schlüssel in der Hand kommt sie nach einer Weile zurück, und wir gehen etwa 400 Meter die Straße zurück in ein Haus auf der rechten Seite. Es scheint das Gästehaus des Klosters zu sein. In einem kleinen Zimmer stehen zwei Betten, ein Tisch und ein Stuhl, an der Wand hängt das Bild der Jungfrau Maria und die Bettdecken stiftete der Bundesgrenzschutz. 10 Mark kostet die Übernachtung. Ich kann mich nicht erinnern, dass es das Haus vor 5 Jahren schon gab. Gegenüber am Bach hatten wir damals gezeltet.
Mittags raffe ich mich zu einem Spaziergang auf. In der Cabana Râmeț gibt es jetzt nicht nur Wein, sondern auch Bier, Schokolade und Coca-Cola. Letztere finde ich mit 1100 Lei (für 1,25 l) recht teuer, im Vergleich zu anderen Produkten. Ich brauche Geld.
Zurück am Kloster fragen mich ein paar rumänische Touristen, ob ich sie fotografieren würde und ihnen das Bild zuschicken könnte. Kein Problem: Ich klicke auf den Auslöser und lass mir die Adresse geben. Um halb fünf fährt der Bus zurück nach Teiuș, ich gehe zurück in mein heiliges Zimmer.

3. Canyoning oder Schluchtenwandern

Am Morgen treffen gerade die ersten Besucher zur Sonntagsmesse ein, als ich mich auf den Weg mache. Das Zimmer ist bezahlt und ich habe 2000 Lei in der Tasche. Ich hatte der Nonne eine Tüte Pfeffer gegeben und ein Klosterfoto, das ich vor 5 Jahren gemacht hatte, und wunderte mich, als sie mir das Geld gab. Nun bin ich halt eine Sorge los. Mal schauen, wie weit ich damit komme.
Die Sonne braucht eine ganze Weile, ehe sie ihre Strahlen in die engen Schluchten des Trascău-Gebirges senden kann. Der Weg ist mit einem blauen Kreuz markiert. Er endet am Ufer des Baches Geoagiu. Ich krame meine Turnschuhe aus dem Rucksack, denn ab jetzt geht es nur noch durchs Wasser. In der Râmeț-Klamm haben sich tausende Wanderer nasse Füße geholt, ehe der Begriff „Canyoning“ überhaupt erfunden war. Mit dem Rucksack auf dem Rücken, den Trekkingschuhen um den Hals baumelnd und der Kamera in Brusthöhe schlurfe ich vorsichtig über glitschige Kalksteinplatten. Noch reicht mir das Wasser nur bis an die Knöchel, doch das soll sich bald ändern. Das Tal wird zusehends enger. Zu beiden Seiten des Baches ragen senkrechte, teils überhängende Felswände mehrere Hundert Meter in den Himmel. Durch den schmalen Spalt fallen jetzt kaum noch Sonnenstrahlen. Ich habe den Eindruck, in einer Höhle zu waten. Das Wasser steigt mir jetzt bis zu den Hüften und langsam mache ich mir Sorgen um meinen Rucksack.
Ich muss an das Schild am Eingang denken, das vor dem Betreten der Klamm bei Hochwasser warnt. Ab und zu hängen alte, vor sich hinrostende Drahtseile von den Felswänden herunter. Hier, wo ich welche bräuchte, natürlich nicht. Nur glatter, vom Wasser ausgewaschener Fels. Vorsichtig taste ich mich vorwärts, Meter um Meter, mein ganzes Geschick aufbringend, nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen. Ein Sturz hätte fatale Folgen, vor allem für meine Ausrüstung. An der engsten Stelle der Klamm versperrt mir ein gewaltiger Felsbrocken den Weg. Ein mehrere Meter tief ausgespülter Gumpen zeigt mir ziemlich deutlich die Unsinnigkeit eines Versuches, den Block rechts zu passieren. Links schlängelt sich ein enger Kamin zwischen Wand und Felsbrocken – die einzige Chance. Aber mit Rucksack? Ich komme mächtig ins Schwitzen. Stimmen von der gegenüberliegenden Seite lassen mich aufatmen: Eine Gruppe Rumänen kommt mir entgegen. Einer zieht von oben meinen Rucksack auf die andere Seite und befreit mich so aus meiner misslichen Lage. Ich hab's geschafft. Langsam öffnet sich die Schlucht. Ein schmaler Pfad führt aus ihr hinaus auf ein Stück Wiese. Zeit für die Mittagspause.
Im Weiler Cheia komme ich an den ersten Motzenhäusern vorbei. Die Häuschen mit ihren hohen grasbedeckten Dächern werden aber nur noch als Stall genutzt. Steil geht es bergauf. In Brădești erreiche ich den höchsten Punkt meiner Wanderung. Mitten im Dorf steht das „Magazin Mixt“. Putz bröckelt von der Hauswand, es wirkt verfallen. Leider hat der Laden geschlossen, ich hätte zu gerne nachgeschaut, ob es nach 5 Jahren mehr gibt als grüne Tomaten und Himbeersirup. Das Motzendorf Valea Poienii hat sich kaum verändert. Bunt bestickte Seidentücher zieren die Fenster und Türen der Häuser, in den Gärten rennen Kälber, Schweine und Enten durcheinander. Geflochtene, mit Lehm zugeschmierte Körbe für die Bienenzucht vervollständigen das Idyll aus Großvaters Zeiten. Früher zogen die Motzen als Handwerker und Händler durch ganz Rumänien. Heute sind sie meistens Bergbauern, sie leben in einfachen Verhältnissen.
Ich komme gut voran und staune nicht schlecht, als sich das große dunkle Portal der Höhle Huda lui Papară vor mir auftut. Hatten wir doch vor 5 Jahren für die gleiche Strecke zwei Tage gebraucht. Ich werde hier bleiben. Den Entschluss fasst auch eine Gruppe junger Rumänen, die soeben eingetroffen ist. „Hast du eine Lampe dabei“, fragt mich einer der Rumänen. Er heißt Mihai und ist mit seinen Freunden, 6 Studenten aus Timișoara, in Richtung Râmeț-Klamm unterwegs. Ich bin gerade dabei, meinen Rucksack auszupacken. Ich krame meine Stirnlampe hervor. „Nicht jetzt“, meint Mihai: „Aber heute Nacht wollen wir in die Höhle, haben aber zu wenig Lampen dabei. Wenn du Lust hast, kannst du ja mitkommen.“ Und ob, das ist ja mal ein Abenteuer, denke ich mir. Mihai und seine Freunde laden mich zum Abendessen ein. Eine Bäuerin verkauft uns etwas Milch, frisch gemolken. Die restlichen Zutaten haben sie selbst. Statt Spaghetti mit Tütensuppe gibt es nun Kartoffeln mit Nudeln und zum Nachtisch Mămăligă, ein rumänisches Nationalgericht, wie ich erfahre. Jedoch kann ich mich mit dem Maisbrei nicht so recht anfreunden. Die frisch gemolkene Milch schmeckt dafür umso besser. Bis es dunkel wird, setzen wir uns um das Kochfeuer, und Alexandru spielt auf seiner Gitarre. Mich stimmt die Situation etwas traurig. Auch wir sind vor 5 Jahren als Wandergruppe durch die Karpaten gezogen. Die Zeiten sind wohl endgültig vorbei. In Deutschland folgt man nun dem Lauf der Sonne nach Westen.

4. Irrwege im Dunkeln

Die Sonne war schon lang hinter den Bergen verschwunden, als wir uns gegen 23 Uhr auf den Weg machen in die Höhle Huda lui Papară. Über eine halsbrecherische Konstruktion aus Brettern und Stangen stolpern wir ins Höhleninnere. Unter uns donnert der Morilor-Bach zwischen den Felsen hervor. In tausenden von Jahren hat er sich durch den weichen Kalkstein gewühlt und diesen gigantischen Hohlraum hinterlassen. Die Lichtkegel unserer drei Lampen sind sehr begrenzt, so sehen wir nicht viel vom Höhleninneren. Bald stehen wir an einer Wand, wo es nicht mehr weitergeht. Zurück schlagen wir einen Parallelweg ein, der sich jedoch bald als Sackgasse erweist. Irgendwie haben wir uns verlaufen und finden den Ausgang nicht. Das Problem – unsere Lampen leuchten nicht ewig. Um sie zu schonen und damit nicht acht Leute in der Gegend herumstürzen, machen sich Mihai und Iulian auf die Suche nach dem rechten Weg. Wir hocken uns derweil auf den Höhlenboden, knipsen das Licht aus und verharren im schwarzen Nichts. Nun haben wir den Salat, ärgere ich mich. Warum sind wir nicht denselben Weg zurückgelaufen? Jetzt sitzen wir hier fest und die Batterien sind bald leer. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt, hören wir Schritte. Die Beiden kommen zurück, sie haben einen Durchgang gefunden. Es dauert nicht lange und wir treffen wieder auf den richtigen Weg. Nach etwa vier Stunden erreichen wir mit schwächlich vor sich hinglimmenden Funzeln den Ausgang und fallen wie tot in unsere Schlafsäcke.
Heute verlasse ich das Trascău-Gebirge. Es ist bereits Mittag, als ich mich von Mihai und seinen Freunden verabschiede. Wir hatten lang geschlafen. Meinen ursprünglichen Plan, heute mit der „Mocanița“-Schmalspurbahn bis Câmpeni zu fahren, verwerfe ich angesichts der fortgeschrittenen Zeit. Ich schlendere bergab in Richtung Sălciua, ins Tal des Arieș. Es dauert nicht lang und die ersten Häuser kommen in Sicht. Ich mache Pause und knabbere ein paar Nüsse. Von dem Gehöft gegenüber spricht mich eine ältere Frau an. „Lapte“, fragt sie und deutet eine Trinkbewegung an. Ich bin überrascht und nicke. Sie verschwindet im Haus, als sie zurückkommt, hält sie einen Becher mit Milch in der Hand. Ich bedanke mich mit zwei Päckchen Pfeffer und zeige ihr ein Foto von dem Fahrer, der uns vor 5 Jahren bis zur Höhle gebracht hatte. Vielleicht kennt sie ja jemanden auf dem Bild. Und in der Tat: Aufgeregt zeigt sie auf den Mann und erzählt mir etwas. Jetzt begreife ich, der Fahrer ist ihr Neffe. Ich schreibe 1988 auf die Rückseite des Bildes und gebe es ihr. Sie verschwindet abermals im Haus und kommt mit Brot und Schafskäse zurück. Sie bedeutet mir, mich hinzusetzen und zu essen, den Rest soll ich in den Rucksack stecken. Sicherlich ist ihr völlig unverständlich, wie man sich nur von Nüssen und Müsliriegeln ernähren kann. Einen zweiten Becher Milch lehne ich dankend ab, sonst würde ich wohl platzen.
Lange laufe ich nun nicht mehr und halte Ausschau nach einem Platz zum Zelten. Lang muss ich nicht suchen, denn hier gibt es einige.

5. Ins Reich des Höhlenbären

Es warten schon eine Menge Menschen an der Haltestation Sălciua de Jos, um mit der „Mocanița“-Schmalspurbahn das Arieș-Tal hinaufzudampfen. Ein Pfiff ertönt – und in einer Rauchwolke hält das Bähnle. Wer keinen Sitzplatz mehr ergattert, hängt sich draußen an den Waggon. Erst in Lupșa leert sich der Zug. Der Grund – hier ist heute großer Markttag. Ich will noch weiter bis Câmpeni, der Hauptstadt des Motzenlandes. Meine 2000 Lei von der Nonne aus dem Râmeț-Kloster reichen locker für einen Fahrschein. In Câmpeni verlässt der Zug das Arieș-Tal. Für mich heißt das Umsteigen. Ich bin nicht der einzige Wanderer, dessen Ziel das Bihor-Gebirge ist. Vier unter der Last ihrer Kraxen wankende Gestalten kommen mir auf dem Bahnhof entgegen. Tudor, Dana, Ștef und Monica aus Iași, im Nordosten des Landes, haben den gleichen Weg. Sie wollen wie ich nach Padiș. Wir beschließen, zusammen weiter zu reisen.
Eigentlich wollte ich von Câmpeni bis Gârda de Sus fahren, um von dort ins Bihor-Gebirge aufzusteigen. Doch Tudor hat eine andere Idee. Mit dem Bus wollen wir bis Chișcău und dort die Peștera Urșilor – die Bärenhöhle – besuchen. Er kennt jemanden in dem Dorf, wo wir übernachten könnten. Um halb eins geht es weiter, der Bus ist zum Bersten voll. Ein Wunder, dass die Leute noch nicht auf die Idee gekommen sind, sich aufs Dach zu setzen.
Wir haben Glück. Tudors Kumpel, den er aus seiner Armeezeit kennt, ist daheim. Auf der Wiese hinter dem Haus bauen wir unsere Zelte auf, dann gibt es erst mal reichlich Bier. Als Tudor seinem Freund unser Vorhaben schildert, die Bärenhöhle zu besuchen, verschwindet dieser im Haus und kommt kurz darauf mit einer Postkarte zurück. Auf dem Foto ist das Innere der Höhle zu sehen, im Licht der Strahler steht eine Person zwischen Stalagmiten und Stalaktiten. Stolz deutet er auf den Mann und sagt: „Das bin ich.“
Die Höhle wurde 1975 durch Zufall bei Arbeiten in einem Marmorsteinbruch entdeckt. Ein unterirdischer Fluss wusch das Gestein aus und hinterließ riesige Hohlräume. Schon kurz nach dem Eingang liegen jede Menge Knochen auf dem Boden. 141 Schädel und ein vollständig erhaltenes Skelett eines Höhlenbären fand man. „Es gibt nur 6 Höhlen auf der Welt, die Ähnliches aufzuweisen haben.“ – sagt Tudor. Das angestrahlte Skelett am Ende des Besucherbereichs ist allerdings nur eine Attrappe. Das Original liegt in Bukarest im Museum. Der Stimmung tut dies jedoch keinen Abbruch, finde ich.
Weiter geht es ins Nachbartal nach Pietroasa. Wir bauen am Dorfrand unsere Zelte auf, gehen im Fluss baden und kochen unser Abendessen. Das Wasser spendet der Dorfbach. Ich misstraue der Sache, aber Ștefan hat eine originelle Art zu testen, ob das Wasser trinkbar ist oder nicht. „Du spuckst hinein. Verteilt sich die Spucke, ist das Wasser gut, bleibt sie, ist es nicht genießbar.“ Also Wanderer, ihr könnt in Zukunft auf Filter, Micropur usw. verzichten. Ich habe nur meine Zweifel, ob das Wasser noch genießbar ist, wenn jeder diese Methode anwendet. Morgen früh wollen wir versuchen, mit den Waldarbeitern hinauf nach Padiș zu fahren.

6. Padiș im Nebel

Ein Blick aus dem Zelt am Morgen verheißt nichts Gutes. Der Himmel ist grau und dunkel, jeden Augenblick könnte das Gewitter losbrechen. Was es auch bald tut. Erst gegen Mittag geht es auf der Ladefläche eines Holztransporters in strömendem Regen rauf nach Padiș.
Etwa 4 Kilometer vor der Hütte setzt uns der Fahrer ab. Der Nebel dort oben ist so dicht, dass man die Hand vor Augen nicht erkennt. Ein Hirte gibt uns den Tipp, doch in der Waldarbeiterhütte unterhalb der Cabana Padiș zu übernachten. Es wäre dort billiger. In der Cabana kostet eine Übernachtung 900 Lei, in der Waldarbeiterhütte 300 Lei. Das Zimmer ist recht spartanisch ausgestattet. Betten (die Decken müssten mal entkeimt werden), Tisch und ein paar Stühle. In der Ecke steht ein selbst gebastelter Kastenofen und aus der Decke schaut ein Stück Stromkabel. An den Enden fehlt die Isolierung und die blanken Drähte sind zu einem Haken nach oben geborgen. Als es zu dämmern beginnt, macht der Hüttenchef das Licht. Er bringt eine Glühbirne, die in einer Fassung steckt. Auch aus dieser schauen zwei Drähte heraus. Die blanken Enden sind diesmal nach unten gebogen. Er hängt die Lampe einfach an die oberen Drähte. Es knistert und funkt ein wenig, dann haben wir Licht im Raum. Ștefan, unser Chefkoch, macht echte rumänische Zwiebelsuppe zum Abendessen.
Am nächsten Morgen ist das Wetter nicht besser. In einer Regenpause schlendern wir zur Cabana Padiș hinüber. Außen hat sich seit meinem letzten Besuch nichts geändert. Innen sieht es aus wie in einer mexikanischen Würfelbude. Rauchschwaden ziehen uns entgegen, als wir den Raum betreten. Mit Bier und Kartenspielen scheint man sich die Zeit zu vertreiben.
Auch wir vertreiben uns die Zeit mit Kartenspielen. Lümmeln uns auf den Betten rum. Zu sehen gibt's eh nichts, nur die Regentropfen, die ans Fenster prasseln. Was wollte ich hier nicht alles unternehmen: „Cetățile Ponorului, Peștera Focul Viu, Scărișoara-Eishöhle“ geistert es mir im Kopf herum. Alles Bitten und Betteln hilft nichts – Zamolxes, die alte Gottheit der Daker, bleibt hart und wir ohne Sonne.

7. Räuberfelsen

Nach drei Tagen Regen bricht endlich die Sonne durch die Wolkendecke. Leider habe ich nun keine Zeit mehr, um noch etwas im Bihor-Gebirge zu unternehmen. Dana, Tudor, Monica und Ștefan wollen zur Cetățile Ponorului, mein Ziel heißt Cetățile Rădesei. Also packe ich meinen Rucksack und breche auf nach Norden ins Vlădeasa-Massiv. Auf einem breiten Schotterweg laufe ich bis zu einem Wegweiser – Someșu Cald steht drauf. Der Weg ist nun mit einem roten Punkt markiert. Bald stehe ich vor dem Eingang zur Rădesei-Höhle, die eigentlich ein natürlicher Tunnel im Fels ist. Am Eingang liegen immer noch die wackeligen Holzleitern. Ich gehe nicht hinein, setze meinen Weg fort. Nach einigen Metern komme ich zu einem Wegweiser, der wieder zum Someșu Cald weist – nach links und rechts 3 ½ Stunden. Ich wähle den linken Weg, da dort irgendwann mal ein Abzweig ins Vlădeasa-Massiv kommen muss. Doch auf diesen warte ich vergebens. Irgendwann stehe ich am Ende der Schlucht des Warmen Someș. Ich habe mich verlaufen. Zurück gehe ich nicht mehr, vielmehr folge ich dem Pfad durch den Wald. Mal sehen, wo er mich hinführt. Der Wald wird immer dichter. Vorsichtshalber schlage ich von Zeit zu Zeit mit einem Stock auf den Boden. Nicht, dass ich plötzlich vor einem Karpatenbären stehe. Im Sommer sind die Burschen normalerweise im dichten Busch, aber wenn sie im Winter der Hunger packt, haben sie schon bei so manchem Bergbauern Magengeschwüre verursacht. Ähnliches trifft auf die Wölfe zu. Ich erinnere mich daran, in einem Reisemagazin gelesen zu haben, dass Grizzlies neben den riesigen karpatischen Bären wie schwächliche Junge wirken würden.
Eine Gruppe Wanderer, die mir irgendwann entgegenkommen und nach Padiș wollen, weisen mich wieder auf den rechten Weg.
„Du läufst immer nach Nordost, bis du auf eine große Wiese kommst. Am Horizont sieht man dann zwei markante Felsen. Auf die hältst du zu und kommst wieder auf den richtigen Weg. Übrigens: In der Vlădeasa-Hütte haben sie gerade Bier.“ Das spornt an. Trotzdem brachte mir dieser kleine Umweg drei Stunden Zeitverlust ein. Bei den Felsen, sie heißen übrigens Piatra Tâlharului, was soviel wie Räuberfelsen bedeutet, baue ich mein Zelt auf. Einer Legende nach hausten hier früher sieben Jahre lang Räuber und vergruben ihre Schätze in der Nähe der Felsen. Manch ein Narr soll tatsächlich den Boden danach durchwühlt haben. Es ärgert mich, dass ich keinen Spaten dabei habe. Die Sonne geht unter, neben mir grasen Pferde, aus dem Tal schallt Hundegebell herauf.

8. Abstieg

Recht zeitig mache ich mich am nächsten Morgen auf den Weg. Von Osten her wirft der Himmel einen rötlichen Schimmer herüber. Die Hirten sind auch schon unterwegs. Wiesen und dichter Fichtenwald wechseln sich ab, auf dem Weg zum Vlădeasa. Wie vor 5 Jahren wähle ich den steilen Weg über den Gipfel. Durstig und voller Erwartung auf ein Bierchen erreiche ich gegen zwei Uhr nachmittags die Hütte. Vor dem Haus stapeln sich Kästen mit leeren Flaschen. Drinnen steht, ich glaub es kaum, ein bunt geschmückter Tannenbaum. Nur Bier gibt es keins. Die haben Ruhetag. So begnüge ich mich wieder mit selbst gekochtem Hagebuttentee. Dicke Regenwolken ziehen herauf, morgen erwartet mich der lange Abstieg nach Bologa.

Bei Nieselregen beginne ich früh den Abstieg. Ich laufe nicht auf der Forststraße wie damals, sondern wähle den direkten Weg hinunter ins Tal nach Săcuieu. Der Weg ist lang, aber ich komme gut voran. In Bologa entschließe ich mich, per Anhalter bis Oradea zu fahren. Ich brauche nicht lang zu warten und ein Autofahrer nimmt mich mit. Er bekommt meinen letzten Kaffee. Und auf dem Bahnhof in Oradea tausche ich meine letzten Leis für ein Zugticket nach Arad. Von dort will ich morgen zurück nach Deutschland fahren. Es ist kurz vor Sonnenuntergang, als ich Arad erreiche. Höchste Zeit, ein Hotel zu finden. Nur wo? Ich muss mich durchfragen, und da steht schon ein Freund und Helfer, der mir sicherlich weiterhelfen kann. Doch als ich den Uniformierten ansprechen will, läuft der weg. Ich versuche ihn einzuholen, aber der wird schneller und rennt vor mir davon. So was habe ich noch nie erlebt, ich verstehe nichts mehr, ich verstehe die Rumänen nicht. In einer Seitenstraße stoße ich dann auf ein kleines Hotel, sie akzeptieren D-Mark, ich hab's geschafft. Mit der Erkenntnis, wieder in den Karpaten wandern zu können, geht es am nächsten Tag heimwärts.

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