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Walter Kargels Ferientipps:

Liebliche Almen und felsige Grate

Der Kleine Retezat und Oslea

von Walter Kargel

Unser Basislager: ein rotes Zweierzelt auf der kleinen, sonnigen Märchenwiese in Câmpuşel, 1180 m.
Câmpuşel, wo liegt das? Nur wenige, selbst unter den gewieftesten Bergsteigern und - wanderern in Rumänien wissen darüber Bescheid. Die meisten behaupten sogar, noch nie etwas davon gehört zu haben. Câmpuşel liegt am südlichen Rand des Nationalparks Retezat, der 1985 als ältester Nationalpark des Landes sein 50. Jubiläum feierte.

5 km südlich vor Petroşani zweigt westwärts die Straße DN 66 A ins Westschil-Tal (Jiul de Vest) ab. Die von Dauerbaustellen etwas mitgenommene Asphaltstraße führt über die Bergbaustädte Vulcan, Lupeni und Uricani und endet nach 30 km im einst idyllischen Bergdorf Câmpu lui Neag, wo heute Kohle im Tagebau gewonnen wird und Schwerlaster hektisch hin und her flitzen.
Dann ist es plötzlich mit Asphalt, Beton und Hektik zu Ende. Übrig bleibt eine steinige Fahrstraße, die zunächst an den Heuwiesen der Streusiedlungen und an Kohlenmeilern taleinwärts vorbeiführt. Rechts zweigt eine Forststraße nach Buta ab, die zusehends schmäler wird, den Buta-Bach überquert und sich zwischen die engen Steilufer zwängt.
Zwei Abzweigungen führen südwärts in die Täler Gârbovel und Valea Boului, dann weitet sich das Tal ein wenig bei Câmpul Mielului, und weiter geht es westwärts. Der Westschil heißt hier an seinem Oberlauf „Scocul Jiului“. Links bleibt ein Forsthaus (Câmpuşel I) zurück und 12 km ab Câmpu lui Neag erreichen wir Câmpuşel, wo die beiden Quellbäche Soarbele und Ştirbu zusammenfließend den Scocul Jiului bilden. Auf einer Wiese (links) steht ein Jagdhaus (Câmpuşel II), darüber erhebt sich im Südosten das Oslea-Gebirge. Rechts weitet sich eine Heuwiese, wo die trockenen Rinnen Faţa Iarului und Cheia Scocului münden, darüber im Nordosten leuchtend im Sonnenlicht die weißen Kalkabstürze der Piatra Iorgovanului. Gleichfalls rechts der Straße eine kleinere Wiese, von Fichten umgeben und mit einem Parkschild (!) versehen. Die Straße jedoch führt weiter gegen Südwesten, zum Jiu-Cerna-Pass (1330 m). Die letzten Kilometer, welche die Verbindung zur Cerna-Tal-Straße herstellen sollen, sind noch im Bau. Voraussichtlich kann man schon mit dem Pkw direkt von Petroşani nach Herkulesbad fahren. Wer das beabsichtigt, sollte vorher genaue Informationen bei OJT Petroşani (Zweigstelle des Kreisamtes für Tourismus) einholen.
Der „Kleine Retezat“ – das ist der kleinere Teil des Massivs, der vorwiegend aus Jura- und Kreidekalk besteht und den südwestlichen Teil des Gebirges ausmacht. Im Gegensatz dazu ist der „Große Retezat“ aus Granit und Diorit.
Der Kleine Retezat, auch Piule-Iorgovan-Massiv benannt, erstreckt sich zwischen dem Lăpuşnicul-Mare-Tal im Norden und Scocul Jiului im Süden, vom Drăgşan-Gipfel im Osten bis zum Soarbele-Sattel im Westen. Jenseits dieser Grenzen steht im Norden der nördliche Hauptkamm des Retezat, der in der Peleaga (2509 m) gipfelt; im Osten schließt sich die südliche Hauptkette des Retezat an – Custura (2457 m). Im Süden erstreckt sich das Vâlcan-Gebirge, zu dem das Oslea-Massiv gehört; im Westen schließlich folgt das Godeanu-Massiv (Gugu, 2291 m). Die Gipfelfolge des Kleinen Retezat ist (von Ost nach West): Drăgşanu (2080), Căpăţâna Albelor (1950), Albele (2005), Stănuleţii Mici (1930), Piatra Iorgovanului (2014), Stănuleţii Mari (2025).
Von diesem Hauptkamm zweigen gegen Süden Nebenkämme ab: Piule (2081) – Pleşa; Muchia cu Lăstuni; Dâlma cu Brazi; Muchia Ciocanelor; Iorgovanu; Iaru.
Die stark verkarstete Landschaft bietet zahlreiche Naturschönheiten: Felstürme, Wände, Klammen, Höhlen, dazu die dem Kalkstein eigene schillernde Blumenwelt. Edelweiß gehört dazu. Aus der Tierwelt sei der Bär und die Gämse vermerkt, dazu der Hinweis auf die Vipern, die sich gern auf den Kalkplatten sonnen und nicht gern dabei gestört sein wollen.
Als Gegenstück zum Kleinen Retezat erstreckt sich im Süden des Schiltals das Oslea-Massiv, das aus kristallinem Kalk bestehende Westende des sonst aus kristallinem Schiefer aufgebauten Vâlcan-Gebirges. Der Oslea-Gipfel ist übrigens mit 1946 m der höchste des Vâlcan-Gebirges. Dieses erstreckt sich in Ost-West-Richtung längs des Schiltals bis zum Alunu-Gipfel, dem sich gegen Westen auf einer Länge von 55 km das Mehedinţi-Gebirge anschließt.
Schon im Altertum war der Vulcan-Pass (1621 m) als der einzige Weg über das Gebirge bekannt. Die Heere der Daker und Römer benutzten ihn. Später sind auch die Heerscharen des Fürsten Michael des Tapferen durch ihn gezogen.
Die Vâlcan-Kette besteht aus den Bergen Straja, Zănoaga, Şigleu, Arcanu, Nedeuţa. Westlich davon senkt sich der Hauptkamm in den Nedeuţa-Sattel (1485 m), und darauf folgt das 4 km lange Oslea-Massiv mit den Gipfeln Coada Oslei und Oslea-Hauptgipfel. Vom Kleinen Retezat aus betrachtet, unterscheidet sich die Oslea vom übrigen Vâlcan-Gebirge durch den geologischen Aufbau, den gezackten, felsigen Grat, die dem bisherigen Hauptkamm quergestellte Ausrichtung von Nordost nach Südwest und vor allem durch die Höhe.
Vom Oslea-Hauptgipfel senkt sich ein Grat fast 250 m steil in den weiten Sattel La Suliţi, 1703 m, hinab. Während der Vâlcan-Hauptkamm südwestwärts verläuft, stellt ein weiterer Kamm die Verbindung mit dem Karpatenhauptkamm (Kleiner Retezat-Godeanu) über den Pass Jiu-Cerna her.

Oslea

Auf dem „Parkplatz“ Câmpuşel sind wir nicht allein. Neben uns haben Wanderer ihr Zelt aufgeschlagen. Bald sind wir im Gespräch, sitzen später am Lagerfeuer und erzählen Bergerlebnisse. Abends holen wir Milch vom nahen Jagdhaus. Bald setzt auch das zahme Rehkitz Fetiţa über den Zaun. Es ist tagsüber im Wald herumgestrolcht und fordert jetzt seine Milch. Neugierig steckt es den Kopf in jeden Topf und jede Tasche und lässt sich von den Jagdmeisterkindern reiten. Es wird nie satt und kommt öfters auch zu unserem Zelt. Man muss den Milchtopf deshalb immer an sicherer Stelle verstecken, will man auch ein Glas Milch trinken.
Am Morgen hat jede Zeltschaft ihr eigenes Programm. Wir brechen zur Oslea auf, laufen etwa 1,5 km talabwärts und biegen bei „Câmpuşel I“ südwärts ins Ursu-Tal ab. Die Hänge sind kahl geschlagen, wir steigen direkt im Bachbett hoch, dann auf einem breiten Hirtenpfad links empor, erreichen die obere Waldgrenze und rasten bei der Schafalm Stâna Ursu.
Für die nächsten Stunden sind wir allein mit unserem Berg. Weglos geht es über einen breiten, runden, grasigen Rücken. Er wird immer steiler und steiler, zuletzt müssen wir auf Händen und Knien kraxeln.
Zwei Stunden ab Câmpuşel erreichen wir den Felsgrat Coada Oslei, gönnen uns eine längere Verschnaufpause und genießen die herrliche Aussicht auf die weite Bergwelt: im Osten die unzusammenhängende Reihe von teils bewaldeten, teils kahlen Bergen der Vâlcan-Kette; im Norden, jenseits des Schiltals, der Retezat und Godeanu; im Westen, im blauen Dunst der Ferne das Cerna- und Mehedinţi-Gebirge, beidseitig des Cerna-Tales. Besonders auffallend sind im Cerna-Tal die charakteristischen Kalkschneiden, auch „Cuiceve“ genannt. Im Süden scheinbar grenzenlos das Vorgebirge, die „Subkarpaten“, das Hügelland und die Donauebene.
Der Himmel ist blau, und es ist ein warmer Tag in diesem „Jahrhundertsommer“. Eine gute Stunde turnen wir über den mit scharfen Kalkscheibchen garnierten Grat südwestwärts zum Oslea-Hauptgipfel, wo beim Steinmann eine zweite Rast eingeschaltet wird.
Steil geht es dann gegen Nordwesten in einen weiten, grasbewachsenen Sattel hinunter. Kurz darauf folgt ein zweiter: Şaua Şarba. Rechts und links des Bergrückens stehen einzelne, bizarr verwachsene Buchen. Dann erreichen wir den Pass Jiu-Cerna, auf allen Karten auch als Curmătura Fetelor oder Curmătura Soarbele angeführt. Hier wird an der neuen Passstraße gearbeitet. Wir lassen die Baustelle links liegen und steigen, die Serpentinen abkürzend, über Wiesen direkt hinab. Die letzten 2 km geht es dann doch noch auf der von Himbeerstauden gesäumten Straße entlang zum Zelt. Nach 6 Stunden Wandertag an diesem heißen Sommertag lechzen wir nach einer Erfrischung und stürzen uns gierig auf die aus Bukarest mitgebrachte Wassermelone.

Piatra Iorgovanului

Ein Blick auf den Himmel überzeugt uns: Es wird wieder ein sonniger, heißer Augusttag. Dennoch lassen wir uns Zeit und frühstücken in aller Ruhe. Gegen elf Uhr sind wir endlich marschbereit. Zwei Trassen stehen zur Wahl: Zwischen Valea Faţa Iarului, der Găuroane-Schlucht oder der dazwischen anstrebenden Bergrippe, die mit einem roten Dreieck markiert ist: Wir wählen den markierten Weg. Bald schon sind wir aus dem Wald und steigen durch eine Parklandschaft mit hohem Gras und einzelnen Fichten, weiter oben mit Latschen und dazwischen Felsplatten. Dann erreichen wir den Hauptkamm in einem Sattel und den mit rotem Band und blauen Dreieck markierten Pfad. Unweit davor ragt aus dem Latschenwald der weiße Felsgipfel, dreiseitig senkrecht abfallend, die Spitze von einem tiefen Spalt gekennzeichnet – die unvernarbte Wunde von Iovan Iorgovans Schwerthieb in sagenhafter Urzeit.
Viele Touristen ziehen vorbei, weil der Gipfel ein paar Meter abseits vom Weg liegt und nur durch (leichte) Kletterei erreicht werden kann. Wir jedoch bleiben auf dem Gipfel und genießen Stundenlang und ungestört den Sommertag.
Zum Abstieg wählen wir das Soarbele-Tal. Zunächst allerdings steigen wir fälschlich vom ersten Sattel südwärts ab; der richtige Weg ist der zweite!
Also zurück, den Stănuleţii-Mari-Gipfel umgangen und dann vom Soarbele-Sattel über einen breiten, grasbewachsenen Rücken weglos hinab ins Soarbele-Tal. An einem kleinen Dolinensee vorbei geht es zur Stâna Soarbele, dann nimmt uns der Wald auf. Zuletzt gibt es noch die bekannten zwei Straßenkilometer bis zum „Basislager“, wo wir nach 5 ½ Stunden Geh-Zeit (Auf- und Abstieg) ankommen.
Erst wird der Durst gestillt, dann sind wir im Forsthaus Gäste von „Doktor Buruiană“, dem Kräuterheilkünstler. Es gibt ein vorzügliches Pilzgericht, Weichselschnaps, Bier und als Nachtisch Himbeerschaum.
Rasttag. Unser Basislager liegt jetzt auf einer Heuwiese bei Câmpu lui Neag. Wir baden im Schil und kochen im Auwäldchen zur Abwechslung Himbeermarmelade am offenen Feuer. Wieder erwachter Tatendrang treibt uns schwitzend hinauf zur Buta-Hütte, unserem neuen Standort.

Piule

Zurück bleibt der Massentourismus im Buta-Tal. Wir passieren noch einzelne Zeltlager in stillen Tal-Kesseln, dann sind wir wieder in der von uns geschätzten Zweisamkeit. Die steinige Rinne mit den Gämsen heißt Râpa Gorganului, der Felsturm links Cuşma (Mütze) Gorganului. Der Kalkstein und die üppige Vegetation wecken Erinnerungen an den Königstein. Nach der sonnigen Gipfelrast mit dem weiten Rundblick, beherrscht vom fast 2500 m hohen Custura-Gipfel im Norden, geht es nordwestwärts, dem Drăgşanu-Kamm zu. Der felsige Grat führt in leichter Kletterei hinab in den weiten Scorota-Sattel. Hier beginnt ein breiter Hirtenpfad, der sich allmählich im Latschendschungel verliert. Es bleibt keine andere Wahl: Wir müssen hinunter in den Scorota-Kessel. Vom Karboden geht es dann über steile Grashänge hinauf zum Hauptkamm. Der weitere Weg ist vorgezeichnet: blaues Dreieck und rotes Band führen zum Sattel Plaiul Mic, über den man den meist begangenen Retezat-Wanderpfad Buta-Pietrele erreicht. Letzte Rast am kleinen See Tăul Păpuşii mit der Aussicht auf die wie zur Parade aufgestellten großen Retezat-Gipfel, dann geht es hinunter – blaues Dreieck, rotes Kreuz – zur Buta-Hütte.

Zum Abschluss: Poarta Bucurei

Am Morgen fädeln wir uns in den endlosen Touristenstrom ein, der sich von der Buta-Hütte zum Bucura-See bewegt. Ein wenig nostalgisch gedenken wir der Stille märchenhafter Wintertage mit glitzerndem Neuschnee, gleichzeitig aber auch der unsagbaren Plackerei mit überdimensionalen Rucksäcken.
Schon früh am Tage ist es warm, die Sonne scheint aus wolkenlosem Himmel. Dreiviertelstunden später stehen wir im Plaiul-Mic-Sattel mit dem bekannten Landschaftsbild. Kein langer Aufenthalt, schon geht es hinunter ins tief eingeschnittene Lăpuşnicu-Mare-Tal, erst über Wiesen, dann zwischen Latschen, schließlich durch steil abfallenden Hochwald.
Die Brücke über den Bach ist vom Hochwasser fortgeschwemmt, über Steine balancieren wir hinüber und erklettern das steile Ufer. Die Wiese Poiana Pelegii ist eine wahre Zeltstadt, an offenen Feuern wird gekocht, Väter spielen mit den Söhnen Fußball.
Der Pfad im Bucura-Tal ist wild romantisch wie eh und je, doch am Bucura-See ist es heute übervölkert: Zelt an Zelt – wie in Mamaia. Die Bergwacht hat ein eigenes Lager eingerichtet, unübersehbar ist die Rieseninschrift SALVAMONT. Da es bei diesem Wetter keine hilfsbedürftigen Touristen gibt, schaukeln die Bergwachleute auf ihren Luftmatratzen auf dem See.
Zwischen den Zelten hindurch wenden wir uns der Poarta Bucurei zu. Die neue Markierung blaues Dreieck führt zum Retezat-Gipfel, der rote Punkt zum Judele und Zănoaga-See. Am kleinen See Tăul Porţii scheiden sich die Markierungen. Hier steht auch das letzte Zelt. Wir folgen dem roten Punkt zum obersten See Tăul Agăţat, der hier knapp unter dem Bucura-Tor, Poarta Bucurei, von Geröll und Granitblöcken umrahmt, eingebettet liegt. Felsgipfel und -zacken umgeben uns: die beiden Judele-Gipfel, der Turnul Porţii („Tor-Turm“), der gezackte hohe Grat zum Bucura-Gipfel. Tief unter uns das weite Bucura-Tal mit den aneinandergereihten Seen Florica, Viorica, Ana, Lia. Den Bucura-See können wir von hier nicht sehen. Im Hintergrund die alles beherrschende Peleaga. Und zwischen all den Felsen Gras und Blumen. Alle floristischen Raritäten des Retezat sind hier in überschwänglicher Üppigkeit vertreten.
Vom Seeufer klettern wir einen Gras- und Blumenhang hinauf zum „Tor“, um einen Blick ins westliche Judele-Kar mit dem Tăul Ştirbului zu werfen: Hier beginnt das wissenschaftliche Naturreservat Retezat. Der saubere Fels des Judele und Turnul Porţii ist auf mehreren Kletterrouten zu begehen.
Wir nehmen Abschied für dieses Jahr.
Am Bucura-See haben Kuhhirten eine Milchschenke improvisiert, und wir trinken uns satt an frischer Milch bevor wir über Bucura-Tal und Plaiul Mic zur Buta-Hütte zurückkehren.
Noch einen Vormittag verbringen wir mit Sonnenbad und kurzem Tauchen im eiskalten Buta-See, dann geht es zurück nach Câmpu lui Neag.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 87, S. 142 – 151)

Seite Bildunterschrift
 
142 Sommerwanderziel vieler Bergfreunde – der Retezat.
143 Kartenskizze: Câmpuşel
145 Kartenskizze: Munţii Retezatului, Munţii Vâlcanului
148 Kartenskizze: Munţii Retezat - Buta
149 Kartenskizze: Munţii Retezat – Bucura
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