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Der „Grüne Riss“: Ein Jubiläum

Erinnerungen an eine schwere Kletterpartie und einen unvergesslichen Freund

von Walter Kargel

Samstagabend. Ohne Laterne stolpern wir den Weg durch den stockdunklen Wald hinauf zum Refugiu. Die Hände nach vorn ausgestreckt, um nicht Bäume zu rammen und Äste in die Augen zu bekommen, die Ohren gespitzt, denn das Rascheln des Waldbodens kündet uns, wenn wir vom ausgetretenen Weg abkommen.
Sonntagmorgen. Klare Sonne am wolkenlosen blauen Himmel. Schon jetzt ist es heiß. Schleppe 25 Stahlkarabiner und zwei 40 m lange Hanfseile, Andrei trägt den Rucksack mit der Biwakausrüstung – eine Hängematte, Pullover und warme Hosen – dazu Wasser, Käse, Brot, Pflaumenkuchen, Zucker und die „Schlosserei“: 33 Fiechtl- und Ringhaken und zehn riesige Bohrhaken. Die steile, felsige Aufstiegsrinne, die letzten schattigen Fichten und Lärchen, das Band mit den bunten Bergblumen, feierliche Stille, wie ein Dom die weite Runde der Valea Albă, das Heiligtum des Amphitheaters zu Füßen der Wand.
Andrei zeigt mir die von ihm ausgeklügelte Führe: da, links, wo grüne Graspolster in der senkrechten Wand Halt fanden, der Riss. Die ersten Seillängen kennen wir von früher. In freier Kletterei geht es einen mäßig steilen Pfeiler empor. Die Südwand glüht wie ein Backofen. Da und dort steckt ein alter Sicherungshaken. Ich steige vor, der große, stämmige Andrei geht als Zweiter, trägt den Rucksack, für seine Kraft ist es ein Leichtes, die verwendeten Haken wieder herauszuschlagen. Rechts die Platten führen zum „Mittleren Riss“; links setzt eine Verschneidung an. Finde einen alten Haken mit einem rostigen Karabiner, dann verlassen wir das bekannte Gelände, betreten Neuland, erreichen einen Grasbalkon mit einer winzigen Bergweide. Eine lose Platte lehnt an der Wand, in ihrem Schatten halten wir Brotzeit. Eine Seillänge mit viel Gras endet bei einer Spalte. Nun wenden wir uns nach links, dem eigentlichen „Grünen Riss“ zu. Nach einem Quergang auf einer Grasleiste schlage ich einen Ringhaken und seile mich zu einem Felsabsatz ab. Andrei kommt nach und zieht das Seil ab. Hier beginnt der „Grüne Riss“ mit einer grasdurchsetzten, seichten Mulde. Es wird steiler und steiler, zuletzt sperren Überhänge unseren Weg. Rechts empor zu einem Sandsteingesims und über brüchigen Fels zwei-drei Schritte rechts. Standhaken dort, wo senkrechte Risse den Weg nach oben andeuten. Andrei kommt nach, unter seinem Schwergewicht bricht ein Griff aus und er pendelt einige Schritte nach rechts. Ich halte; bald steht er neben mir. Zwei oder drei Seillängen geht es nun aufwärts mittels Doppelseiltechnik.
Es dunkelt. Hoch oben winkt das „Große Band“, der halbe Weg ist wohl hinter uns, morgen sind wir draußen. Wir richten die Stelle für das Biwak her. Sie ist nicht sehr gemütlich: eine abschüssige Leiste in senkrechter Wand. Wir schlagen eine Hakengalerie, hängen unsere Selbstsicherungen ein, die Hängematte, die Rucksäcke. Alles, was nicht an einem Haken hängt, fliegt sofort ins dunkle Nichts hinaus. „Die Hängematte ist für dich“, sagt Andrei, „du musst morgen frisch sein.“ Ich klettere hinein, Andrei setzt sich auf das zusammengerollte Seil, seine Beine baumeln im Leeren, er hängt dafür noch eine Steigleiter ein, wir ziehen die Anorakkapuzen tief über die Augen. Sterne leuchten, die Lichter von Buşteni, es ist kalt, die Zähne klappern, der Mund ist ausgedörrt, ein bitterer Geschmack, das Wasser ist fast zu Ende. Für morgen früh bleibt nur noch ein Schluck, die zerschundenen Hände schmerzen, die Lippen sind aufgesprungen, und immer wieder schüttelt mich die Kälte. Lang ist die Nacht, erst elf.
Montag. Langsam verrinnt die Nacht. Plötzlich sagt Andrei: „Schau, dort hinter den Tigăi am Krähenstein geht die Sonne auf!“ Ich liege noch weiter in der Hängematte, während Andrei die Vorbereitungen für den Aufbruch trifft. Endlich krieche ich auch heraus, der letzte Schluck Wasser, eine Tomate, eine halbe Zitrone mit Zucker. Die Haken werden herausgeschlagen, Anorak und Pullover ausgezogen, Rucksack gepackt, Kletterschuhe zugeschnürt, Karabiner und Haken in die Brustschlinge, Hammer beriet, und weiter geht es. Beim ersten Haken schon klebt die Zunge im Mund. Schwer arbeite ich mich die Überhänge 15 m empor, Erdreich rieselt bei jedem Überhang ins Gesicht, dann kommt ein Überhang, der mich aufhält. Drei Stunden nach dem Aufbruch stehe ich immer noch unter ihm, Andrei eine Stufe tiefer, zwei Meter unter mir. Unten im Circuri-Amphitheater erscheint unser Freund Tudorel und ruft uns zu. Es ist 9 Uhr. Endlich bringe ich Andrei herauf zu mir, steige auf seine Schultern, bringe einen Bohrhaken an, schwinge mich empor, und die Stelle liegt hinter mir. Um 11 Uhr stehen wir auf schmaler Leiste 40 m über dem Biwak. Ich bin am Ende der Kräfte vor Hunger und Durst. Die letzte Tomate mit einem Bissen Käse und Brot wird verschluckt. Es folgt ein Quergang rechts und empor auf eine Grasrampe: Hier führt Andrei.
Wieder übernehme ich die Führung und erreiche eine Grasleiste knapp 40 m unter dem „Großen Band“. Jetzt folgt das Schwerste: der Ausstieg, eine saubere, mauerglatte Schlusswand. 15 m geht es noch aufwärts. Andrei folgt nach und holt die Haken heraus. Gemeinsam stehen wir auf einem winzigen Stand. Noch 5 m geht es empor, dann ist es aus. Keine Möglichkeit weiterzukommen. Zurück zum Stand. Ein zweiter Versuch scheitert ebenfalls. Wir warten auf Tudorel, hoffen, dass er oben erscheint und uns ein Seil zuwirft. Stunde um Stunde vergeht. Schlafe ein, wache wieder auf, nichts. Besprechen das Abseilen. Einfach wird es nicht sein, und die Haken halten auch nicht in dem morschen Gestein. Uns graut vor dem langen Abstieg. Schon ist es 16 Uhr vorüber. Plötzlich entschließe ich mich, es nochmals zu versuchen. Ich fühle mich jetzt besser und ausgeruht. Frisch klettere ich aufwärts, bringe Haken an, wo es vorher unmöglich schien, komme langsam höher. Die letzten Meter bis zum Kamin gehe ich ohne Haken. Bange Minuten vergehen, die Füße baumeln im Leeren, bis es mir gelingt, mich mit Ellbogen und Brust im Kamin festzustemmen. Ich schreie wie besessen: „Wir haben es!“ Nach einer Schnaufpause stemme ich den Kamin empor und krieche auf den seidigen Grasteppich des „Großen Bandes“. Rufe Andrei zu, lege mich ins Gras und ruhe aus. Nach einer Weile schlage ich einen Haken und mache ein Seil fest. Am zweiten hisse ich Andrei empor.
Es ist 18 Uhr und wir liegen im Gras. Dann schließen wir die Seile auf, packen die Schlosserei in den Rucksack und eilen über das Band und die „Scoruşi-Rinne“ hinab. In einem Felsbecken finden wir ein wenig Wasser, später treffen wir Tudorel, der uns mit Wasser und Zitrone entgegenkommt. Beim Refugiu endlich gibt es ausreichend Wasser, und dann essen wir ohne bestimmte Reihenfolge alles, was wir gerade erwischen: Sardinen, Rahat (türk. Süßspeise), Käse, Butter, marinierten Fisch, Pflaumenkuchen. Um 10 Uhr abends sitze ich im Speisewagen, dreckig, mit zerrissenem Hemd, Stoppelbart, Erdkruste im grünen Gesicht.
Das war im August 1954, vor genau 25 Jahren.
3. Juli 1955. Fliegen summen im Sonnenschein. In einem Sack tritt Andrei seine letzte Talfahrt an. An Seilen über den steilen, beinharten Gălbinele-Firn, auf einer Tragbahre vom Refugiu bis zum Căminul Alpin, in einer Ambulanz bis zum Spital in Azuga, in einem Autobus bis zur Kapelle am Belu.
Zurück bleibt ein schwarzes Kreuz im Gălbinelegrund, alljährlich im Juli ein frischer Strauß Edelweiß und die leuchtende, ewig junge Erinnerung an ein frisches Jungengesicht mit schwarzem Stoppelbart und melancholischen Augen, die vielen unvergesslichen Bergerlebnisse, allen voran der „Grüne Riss“.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 79, S. 33 – 39)

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