Wandern zwischen Alt und Schil
von Herbert Hoffmann
Man muss, will man eine Stadt kennen lernen, „sich die Straßen buchstäblich in den Körper gehen“, stand neulich in der Zeitung. Das muss man auch, will man eine Gegend, einen Landstrich, einen Kontinent erkennen. Die lebendige Berührung mit dem Untergrund, mit Stein, Sand, Kiefernnadeln oder Ackerkrume, sie erst teilt den Pulsschlag einer Landschaft mit, ganz zu schweigen von dem der Menschen. Wo kann man die Bewohner eines Landes besser in der Intimität ihres Denkens beobachten als gerade auf der Straße. Die Frage nach der Uhrzeit, die zögernde Antwort auf eigene Fragen, das allmählich sich an die Oberfläche durchringende beinahe kindliche Zutrauen: Hier liegt die Gastlichkeit, nicht in den vollen Schnapsgläsern oder den warmen Daunenbetten. Hier werden die Türen und Fenster dem Fremden weit und bedingungslos geöffnet.
Diese Gastlichkeit war hier kein Leichtes. Es war ein Kampf mit allem, was da mitsprechen konnte aus Generationen einer urzeitlichen Gemeinschaft. Viele Männer und Frauen, harte Hände und mütterliche Herzen haben dich gewogen, nach allen Seiten gewendet und betrachtet und schließlich fast ein wenig störrisch und widerwillig akzeptiert. „E om de omenie“, das bedeutet keine soziale und keine materielle Einstufung. Das ist kein billiges „Letzteshemd“-Symbol, sondern jene saubere Wertung die verpflichtet durch ihre bedingungslose Freiwilligkeit.
Ursprünglich sollten es die Moldauer Klöster sein. Sie wissen ja: Putna, Stefan 
der Große; Voroneţ-Blau, Fresken und mittelalterliche Mystik neben 
asphaltierten Straßenbändern. Dann kamen die Bedenken und schließlich die 
Entscheidung für das stillere Land zwischen Alt und Schil.
Verschieden im Ausmaß und Haltung sind die Klöster in diesem Land, wie die 
Menschen, die auch einander nur scheinbar gleichen. Horezu ist steif und stolz 
in seiner Wahrhaftigkeit und dem Bewusstsein, ein Juwel aus der 
Brâncoveanuzeit zu sein; Bistriţa ist die kleinere Schwester, die 
nicht nachstehen will, und Polovragi endlich ist das Aschenputtel, zurückgezogen, 
ohne Mauern und Zinnen, umgeben von Gärten, verborgen hinter dichten Reihen des 
bescheidensten unter den Obstbäumen, der Dattelpalme Olteniens, dem Pflaumenbaum.
„Schaf und Pflaume“, sie nähren, kleiden und wärmen dich, und ist die Arbeit 
getan, so ist auch ein gutes Tränklein da und aus einem Ast ein Flötlein 
geschnitzt, auf das sich gar trefflich hüpfen lässt. Tatsächlich scheint hier 
die Welt aus Obstgärten zu bestehen, denn überall dort, wo sich die satten 
Maisfelder in den birkenbestandenen Weiden verlieren, stehen wie zufällig 
Pflaumenbäume. Dunkel und knorrig, wie ruppige Besen diesmal, überladen und 
überhängend wie die schönsten Trauerweiden ein andermal, und überall leuchten 
ihre blauen, süßen Früchte. Im Gras, säuberlich halbiert auf Brettern zum Dörren 
ausgelegt oder schon in hohen, schmalbrüstigen Bütten zum Gären gebracht. Und 
über allem flimmert in der Sommerhitze der Ruch aus der nahe gelegenen 
„Povarnă“, der Schnapsbrennerei, deren großes Schöpfrad sich gegen den 
unwahrscheinlich blauen Himmel silbrig abhebt.
Noch eine besondere Art von Bauten fesselt in diesem Land unsere Aufmerksamkeit. 
Die „Cule“, befestigte Bojarensitze, deren unteres Geschoss keine oder nur 
schießschartenartige Öffnungen aufweist, wogegen das obere mit seinen Arkaden 
ideale Beobachtungsstände bietet. Die besterhaltenen dieser für Oltenien 
charakteristischen Wehrbauten stehen in Măldăreşti, das 
etwa vier Kilometer südlich von Horezu im Luncavăţ-Tal liegt. Die 
so genannte „Cula veche“ beherbergt ein sehenswertes Museum. Ein 1516 von Tudor 
Maldăr erbauter Turm erhöht noch die Wehrhaftigkeit der Anlage.
Merkwürdig ist übrigens, dass die alten Bauernhäuser des Gorjer Gebiets 
ebenfalls mehrstöckig sind. Über einem aus Stein oder massiven Eichenbohlen 
errichteten, ebenfalls fensterlosen Erdgeschoss, das als Vorratsraum dient, 
erhebt sich ein Stockwerk, das gegen die Vorderfront hin einen offenen Gang 
bildet. Das Dach wird von geschnitzten Säulchen getragen.
Wasser. Hier findet man es am Straßenrand in seichten schindelgedeckten Brunnen, 
an deren Pfeilern ein Tonkrüglein oder eine hölzerne Schöpfkelle (allerdings an 
einer Kette befestigt) hängt. Die Leute hier haben eine eigene Art zu denken. 
Ihre Grundeinstellung zu allem scheint die Frage nach der Kausalität zu sein. 
Das Warum, das Wodurch, die Frage nach dem Wozu?
„Wo finden wir Wasser?“ „Wozu?“ „Zum Trinken.“ „Wie viel?“ „Eine Flasche voll.“ 
„Hinter dem Zaun ist ein Brunnen.“ Oder. „Wo wohnt der Töpfermeister 
Frigură?“ „Was wollt Ihr von ihm?“ „Wir wollen zu ihm.“ „Wozu?“ „Um seine 
Ware anzusehen.“ „Warum?“ „Weil sie schön ist.“
Hat man sich aber mit Mut und Ausdauer durchgefragt, so kann man angenehme 
Überraschungen erleben. Besonders in Horezu, wo in dem „Olari“-Viertel, einem 
einstigen Weiler, noch heute die berühmte Keramik hergestellt wird, die einst an 
den Fürstenhöfen Munteniens die tafeln schmückte. Hier leben seit Generationen 
die Töpferfamilien Ogrezeanu, Giubega, Vişoianu, Frigură und 
erzeugen die bauchigen Wasserkrüge, die Milchnäpfe und Kochtöpfe, vor allem aber 
die eigenartig verzierten Teller. Steht man neben dem Töpfer, so scheint es gar 
nicht schwer zu sein, mit dem Hörnchen drei parallele Kreise in Weiß und 
Manganbraun zu ziehen und diese dann mit einem kleinen bürstenartigen Pinsel, 
der „Gaiţa“, marmorartig zu verschmelzen, so dass haarfeine 
Linienornamente auf einer Art Notenportativ entstehen, die, veredelt durch den 
Glanz der Glasur, an raffinierte Dekors altpersischen Kunstgewerbes erinnern.
Auch hier lobt man die Tatsache, „per pedes apostolorum“ die Welt zu 
durchstreifen. Nur die Töpfer selbst haben sich dem Gebot der Zeit angepasst. 
Der Schwiegersohn des Ion Frigură hat sich einen IMS-Geländewagen 
angeschafft, mit dem er auf die Märkte fährt. „Cine are marfă, are 
şi pagubă“ sagt fatalistisch ein altes Töpfersprichwort.
Hat man die bewohnten Gegenden verlassen und geht talauf, beginnt die von 
Coşbuc als „Welt der Abgründe und Wirbel“ benannte Zone der steil 
abfallenden Felswände, der zahlreichen Höhlen, deren bedeutendste die von 
Polovragi und Baia de Fier sind, wobei aber die Möglichkeit offen bleibt, 
jederzeit weitere zu entdecken (1966 wurde am Olteţ eine Höhle von 
Straßenbauarbeitern entdeckt). Das Gemisch aus Erregung und verhaltener Angst, 
das sich dem Besucher dieser Galerien aus der Kindheit des Menschengeschlechtes 
aufdrängt, macht jede Höhlenwanderung zu einem nachhaltigen Erlebnis. Ein 
undurchdringliches Dunkel umfängt uns schon beim Betreten des kühlen und 
scheinbar grenzenlosen Raumes. Überall nur fliehende Schatten, weißliche 
Schemen, die sich beim Näherkommen als Steingebilde entpuppen, als Stalagmiten, 
als Säulen, als versteinerte Gerinnsel kalkiger „Mondmilch“. Bärtige Köpfe, 
überdimensionierte Variationen der Hochgotik, Fels gewordene Spinngewebe, in 
Jahrmillionen entstanden (je drei Millimeter in zehn Jahren) locken und 
schrecken zugleich. Der Fuß empfindet das schlüpfrige Gestein des Bodens nicht 
mehr, das Ohr hat sich an die schwer fallenden Tropfen gewöhnt, das Auge saugt 
sich gierig in das gesamte Nichts, und jede neue Öffnung in den mondbleichen 
Wänden saugt sich gleichsam auf. Hier soll Zamolxis gewohnt haben, die Gottheit 
der alten Daker, und all die Tropfen, die seit Jahrhunderten fallen und fallen, 
sind Tränen, die er für das unterworfene Dakien vergießt.
Über all den Höhlen, Halden und Göttertränen aber erhebt sich stolz der „Albu“, 
der „Weiße Berg“, die höchste Spitze des 
Căpăţâna-Gebirges, das trotz seiner geringen Höhe 
(1866 m) monumental über das getische Hochland und das Karpatenvorland 
hinauswächst und auf dieses wunderbare Flecken unberührter Natur mit der 
Gleichgültigkeit des Titanen herabblickt. Ein Land der Merkwürdigkeiten, der 
Gegensätze, ein Land dialektischer Spannungen und der Antithesen. Hier hat 
Brâncuşi gelebt und seine Dimensionen und Rhythmen erfühlt. Von 
Costeşti bis Tomşani findet man im aluvialen Sand der steil 
abfallenden Hänge riesige, steinerne Gebilde von unwahrscheinlich 
grotesk-künstlerischer Form; Spielereien, Variationen des Maßlosen in Raum, Zeit 
und Materie. Sind da das „Tor des Kusses“, der „Tisch des Schweigens“ und, als 
Krönung des Ganzen, die „Säule der Unendlichkeit“ nicht lediglich die endlich 
gefundenen Formen jahrtausendealter Synthesen?
In den Bergen jauchzt das Singen der Motorsägen durch tausendjährigen Forst. In 
den Tiefen der Berge bricht sich prustend der Presslufthammer durch taubes 
Gestein einen Weg zu Graphit, Kohle, Erz. Durch die steilen Täler tosen die 
Wasser, der Galbenu, der Olteţ, der Schil – ungebärdige Burschen, 
stürmisch und kraftvoll und unendlich.   
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 72, S. 161 – 165)
| Seite | Bildunterschrift | 
|---|---|
| 162 | Arkaden im Kloster Horezu. | 
| 165 | Trotzig und stilvoll: „Cula“ in Măldăreşti. |