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Der Retezat

Porträtskizze eines siebenbürgischen Gebirges aus Banater Sicht

von Georg Hromadka

Nehmen wir eine Rumänienkarte zur Hand. Verbinden wir darauf Reschitza (Reşiţa) im südöstlichen Banat und Petroşani im südwestlichen Siebenbürgen durch eine Linie. Schließen wir für kurze Zeit die Augen. Stellen wir uns vor, wir verlassen Reschitza, die Wiege unserer Schwerindustrie, und peilen Petroşani an, die „Hauptstadt“ unseres größten Kohlenbeckens. Rund 120 Kilometer sind zu überwinden. In schnurgeradem Flug geht es über das Temeschtal (Valea Timişului) südlich von Karansebesch (Caransebeş). Gleich darauf taucht eine Masse von Bergrücken und Berggipfeln auf, die aus unübersehbaren Wäldern heranwächst. Wir staunen über die Zahl der Gebirgsflüsse. Noch etwas fällt uns auf: Immer mehr Gestein bricht aus den Wiesenbergen hervor. Wir überfliegen das Ţarcu-Massiv zwischen Muntele Mic und Ţarcu, das Bloju-Massiv über dem Hauptgipfel Vârfu Pietrii. Plötzlich schreckt uns ein „Paukenwirbel“ auf: Wie wir ein tief in den Fels geschnittenes Tal überqueren (der blaugrüne Fluss ist der Râu Mare), schraubt sich das Flugzeug höher. Auf uns zu kommt die gigantisch Felsenburg des Retezat. Um 300 Meter überragt der Retezat den Ţarcu und den Bloju. 300 Meter nur – aber es ist eine andere Welt. Wir sehen keine Wiesenberge mehr. Nur noch Felsspitzen, Felstürme, Felsgrate. Überall liegt silbergraues, graugelbes, graugrünes Gestein – Gigantenschutt. Er bedeckt die Gipfel, die Flanken, die Kessel. In Halden fließt er die Hänge hinunter, ergießt sich in die Seen auf dem Boden der Gletscherkessel und leuchtet durch den Smaragd der Meeraugen. Ohne das viele Wasser und die an den Bachläufen und um das Gestein herum wuchernde Vegetation, ohne den köstlichen Kontrast der Formen und Farben wäre hier eine große Öde. So aber erscheint uns das, was wir sehen, als ein Hochland unbegreiflicher Wunder. Wir fliegen über den Retezat, den „geköpften“ (retezat) Gipfel, der dem Massiv seinen Namen gibt. Wir sichten die Peleaga, die „nackthalsige“ Gipfelfürstin des Massivs, und schon öffnet sich zur Rechten der „Bucura-Zirkus“, das gewaltigste Rundtheater unserer Karpaten, mit dem größten Meerauge Rumäniens, dem Bucura-See. Vorbei ziehen die schwarzen Peleaga-Türme, vorbei die „Puppe“ Păpuşa. Meeraugen, wohin wir blicken, aber keins schöner als der einsame Galeş-See am Fuß des Vârfu Mare. Eine Weile fliegen wir mit dem Râu Bărbat, dem „emsigen“ Fluss, parallel. Wir werfen noch einen letzten Blick auf das Leporello-Album der Gruniu-Hänge und verlassen den Retezat über dem östlichen Vorland, der Tulişa. Petroşani in Sicht. Der Traumflug ist zu Ende…

Die Godeanu-Retezat-Gruppe

Mit dem Bleistift haben wir auf der Karte den nördlichen Teil einer zusammenhängenden Gruppe von Gebirgen durchschnitten. Dass es sich um ein zusammengehörendes Ganzes handelt, sehen wir, wenn wir die Karte genauer betrachten: Es ist ein einziges System von ungezählten, miteinander verbundenen Bergrücken und -gipfeln im Raum Orschowa (Orşova) – Karansebesch – Petroşani. Das Großmassiv in Dreieckform.
Unsere Geographen nennen diese westlichste Berggruppe der Südkarpaten „Godeanu-Retezat-Gebirge“ (in der „Noua geografiie a patriei“ sind alle Gebirge des großen Dreiecks unter dem Namen Godeanu-Retezat zusammengefasst) oder „Godeanu-Gebirge“ (Vintilă Mihăilescu in seinem Buch „Carpaţii sud-estici“; er rechnet die Oslea-Vâlcan-Gruppe zwischen dem oberen Motru und dem Schil zum Godeanu, jedoch nicht auch das Mehedinţi-Massiv weiter südwestlich). Noch sind die neuen Namen Schall und Rauch. Für den Geographen wie für den Geologen aber ist die Einheit erdgeschichtlich und strukturell erwiesen. Die Gebirge sind zur selben Zeit entstanden (wobei das nördlichste, der Retezat, schneller und höher gewachsen ist), und ihr geologischer Aufbau ist im Großen und Ganzen derselbe.
Von der Einheit dieser Gebirgsgruppe können sich auch die Touristen überzeugen, sooft sie vom Muntele Mic, von Armeniş, von Teregova oder von Bucova aus auf uralten Hochpfaden („plaiuri“) das Ţarcu-, das Godeanu- und das Bloju-Gebirge erkunden, sooft sie vom Cerna-Tal aus zum Godeanu steigen und über den Moraru, die Paltina, den Iorgovan zum Retezat vorstoßen. Theoretisch kann man von einem Massiv zum anderen wandern, ohne je ins Tal abzusteigen. In der Praxis freilich muss man den Hochpfad verlassen und sich nach einem schützenden Dach umsehen, sobald der Abend herannaht.

Acht Gebirge bilden die Godeanu-Retezat-Gruppe:

  1. das Cerna-Gebirge (höchster Gipfel: Vf. Dobrii, 1929),
  2. das Godeanu-Gebirge (Gugu, 2290),
  3. das Ţarcu-Gebirge (Căleanu, 2190),
  4. das Bloju-Gebirge(Vârfu Pietrii, 2190),
  5. das Piule-Iorgovan-Gebirge (Piule, 2080),
  6. das Vâlcan-Gebirge (Straja 1870, Oslea 1946),
  7. das Mehedinţi-Gebirge (Vârfu lui Stan, 1466),
  8. das Retezat-Gebirge (Peleaga, 2509).

Sättel verbinden die einzelnen Gebirge. Der Übergang vom Cerna- zum Godeanu-Gebirge vollzieht sich beim 1663 Meter hohen Olanu-Sattel. Der Prislopu Negru (Buza Tocilei, 1600 ?) verbindet Godeanu und Ţarcu, die Şeaua Iepii (1721) Ţarcu und Bloju, die Curmătura Soarbele (1900 ?) Godeanu und Piule-Iorgovan, der Soarbele-Sattel (1550 ?) Godeanu und Vâlcan-Oslea-Mehedinţi, der Scocu Drăgşanu (1700 ?) Iorgovan und Retezat. Die Kalksteinformation Piule ist mit dem kristallinen Drăgşanu, einem südlichen Ausläufer des Retezat, fest verwachsen; die „Hängebrücke“ fehlt hier.
Fast nirgends fallen die Hauptwege, in den Banater Massiven wenigstens, unter 1600 Meter ab. Meist bewegen sie sich in einer Höhe von 2000 Metern. Mehr als woanders beeindruckt uns auf den Kammwegen des Ţarcu und des Godeanu die Klugheit der Gebirgspfade. Wir denken an die Hirten, die vor Jahrtausenden als Erste diese Pfade ausgetreten haben. Mit Spürsinn und Erfahrung haben sie jedes Mal die gescheiteste (die leichteste und kürzeste) Variante gewählt.

Grenzen und Grenzpunkte

Im Nordosten des Dreiecks liegt der Retezat: dort, wo bei Gebirgsbildung die Gesteinsmassen am energischsten nach oben gedrückt worden sind und das Urgestein am sichtbarsten zutage getreten ist.
Die Grenzen des Retezat sind im Norden das Hatzeger Land (Râu Mare und Strei), im Osten der Östliche Schil (Jiu de Est), im Süden der Westliche Schil, das Buta-Tal, die Kalksteingruppe Piule-Iorgovan, der Unterlauf des Lăpuşnicu Mare, im Westen der Râu Mare. „Grenzstädte“ hat der Retezat nur im Norden (Hatzeg), im Osten (Petroşani) und im Südosten (Lupeni). Im Westen liegen die nächsten Städte in einer Entfernung von rund 50 und 70 Kilometern (Karansebesch, Reschitza).
Bahnstationen von touristischem Interesse sind: im Norden Sarmizegetuza (für die Stützpunkte Gura Zlata und Gura Apei), Cârneşti-Retezat, Ohaba de sub Piatră und Băeşti (für die Pietrile-Hütte), Pui (für die Baleia-Hütte), im Südosten Lupeni (für die Buta-Hütte).

Die Gipfelkonstellation

Es gibt Autoren, die meinen, der Retezat sei ein unübersichtliches Massiv. Sie haben nicht recht. Der Retezat ist ein klar gegliedertes, in gewissem Sinn sogar symmetrisch angelegtes Gebirge. Seine sieben höchsten Gipfel gruppieren sich ungefähr in H-Form um das Zentrum des Massivs, aus dem die 2509 Meter hohe Peleaga (Nr. 1 im Retezat) herausragt. Östlich von der Peleaga erhebt sich die Păpuşa (Nr. 2 mit 2500 Metern), westlich die Bucura (Nr. 6 mit 2439). Nordwestlich von der Bucura ragt der Retezatgipfel in die Höhe (Nr. 3 mit 2485) und südwestlich von ihr der Judele (Nr. 7 mit 2400). Nordöstlich von der Păpuşa richtet sich der Vârfu Mare auf (Nr. 5 mit 2455), südöstlich von ihr steht die Custura (Nr. 4 mit 2457).
Hohe, felsige, zum Teil scharf gezahnte Kämme („custuri“) verbinden die sieben Hauptgipfel miteinander. Von jeder der sieben Spitzen laufen kleinere Bergkämme („muchii“) aus. Etliche dieser „custuri“ und „muchi“ nehmen stellenweise recht dramatische Formen an, wie etwa der Übergang von der Păpuşa zum Vârfu Mare im Abschnitt Muchia Galeşului („Poarta ânchisă“) oder der Grat, der den Judele mit dem nach einem Dorf im Hatzeger Land benannten Vârfu Sântamaria (2328) und dem Slăvei (2346) verbindet.

Retezat-Rekorde

Der Retezat ist mehrfacher Rekordhalter. Dies sind seine „Landesrekorde“:
Mit 2509 Metern ist er unter den rumänischen Karpatenmassiven zwar nur dritter (hinter den Fogarascher Bergen und dem Paring), in der mittleren Höhe jedoch schlägt er seine Konkurrenten. Sie beträgt 2350 Meter (Fogarascher Berge 2300, Paring unter 2300, Rodna 2200). Von seinen Gipfeln sind über 20 höher als 2300 Meter. Ungefähr 40 ragen über 2200 Meter hinaus.
Der Retezat besitzt die meisten Bergseen („tăuri“): rund 80 insgesamt. Daher nennt man den Retezat auch das „Seenparadies der Karpaten“. Im Retezat finden wir den größten rumänischen Bergsee, den Bucura-See. Er ist 504 Meter lang, 164 – 290 Meter breit und bedeckt eine Fläche von 10,9 Hektar. Er ist 16 Meter tief.
Im Retezat kommt der tiefste rumänische Bergsee vor, der Tău Negru. Seine größte Tiefe beträgt 22,5 Meter.
Im Retezat haben wir den höchstgelegenen Bergsee unserer Karpaten, den Großen-Custura-See (Tău Mare al Custurii). Er liegt 2270 Meter hoch. (Nach neueren Erkenntnissen ist der Lacul Mioarelor (2282 m) im Fogarascher Gebirge, Rumäniens höchster Bergsee.  F. K.)
Das ausgedehnteste Naturschutzgebiet der rumänischen Karpaten ist der „Nationalpark Retezat“. Er umfasst 13 000 Hektar.
Der Retezat ist das wasserreichste Massiv unserer Karpaten. Seine Wasserreserven belaufen sich auf 6 Millionen Kubikmeter (Fogarascher Berge: 1,5 Millionen).

Das Urgestein wiegt vor

Geologische Karten zeigen, dass im Retezat das Magmagestein, der Granit und der Grandiorit, gegenüber dem ebenfalls reichlich vorkommenden kristallinen Schiefer und anderen Gesteinsarten überwiegen. Das Urgestein gibt dem Massiv besonders in seinem zentralen Teil das besondere Gepräge. Der Retezat erscheint uns massiger, gedrungener als die meisten Hochgebirge der rumänischen Karpaten. Er ist weniger zernagt und zersplittert als sein größerer Bruder am Alt (Olt). Trotz der überall sichtbaren Spuren der zermalmenden Tätigkeit der Eiszeitgletscher hat man den Eindruck, dass dieses Gebirge dem Einfluss der erdäußeren Kräfte (Wind, Schnee, Eis usw.) am hartnäckigsten widersteht. Der Retezat wird noch lang dauern. (Ich fürchte, er überlebt uns alle…)
Felsenabstürze gibt es auch im Retezat genug. Aber mit den phantastischen Nordhängen der Fogarascher Berge sind sie nicht zu vergleichen. Das unterschiedliche Bild ist auf den grundverschiedenen geologischen Aufbau zurückzuführen und auf die Tatsache, dass der Retezat (wie wir gesehen haben) anders angelegt ist als das mit der ganzen Breitseite dem bissigen Nord zugewandte Fogarascher Kammgebirge.

Pflanzen und Tiere

Die Laubwälder (Buchen herrschen darin vor) reichen im Retezat stellenweise bis zu 1400 Meter Höhe. Die Fichtenwälder steigen bis etwa 1700 Meter. Die Latschen (Krummholzkiefer) kriechen bis an die 2000-Meter-Grenze und darüber hinaus. Die sehr dichten, oft auch sehr ausgedehnten (und schönen!) Latschenfelder werden von erfahrenen Touristen wohlweislich umgangen, sofern nicht klare Wege hindurchführen.
In keinem zweiten rumänischen Karpatenmassiv kommt die Zirbelkiefer so häufig vor wie im Retezat. Stattlichen Exemplaren dieses Eiszeitrelikts begegnen wir unter anderem im Bucura-Tal an der viel begangenen Nord-Süd-„Magistrale“.
Ähnlich wie die türkisblauen und smaragdgrünen Seen steht die Vielzahl der Gräser und Blumen kontrapunktisch zur grandiosen Herbtönigkeit der Urgesteinslandschaft. Floristen haben im Retezat 320 Pflanzenarten festgestellt, im Kalksteingebirge Piule-Iorgovan gar 426 Arten.
Reich ist die Tierwelt des Retezat. Gämsen begegnen wir auch außerhalb des Gemenile-Reservats. Bären werden von den Hirten oft gesichtet. Dem Touristen gehen sie aus dem Weg (wohl aus Interesselosigkeit). In den Wäldern hausen Wölfe, Füchse, Wildschweine, Hirsche, Luchse, Wildkatzen und Auerhähne. Nach Steinadlern, Mönchs- und Bartgeiern halten wir heute vergebens Ausschau. Einst waren sie im Retezat zu Hause. Die im hohen Fels nistenden Kolkraben sind noch da. Von den 923 Schmetterlingsarten des Massivs kommen 4 ausschließlich im Retezat vor.

Die „Schwerpunkte“

Im Retezat gibt es keinen Erlebnis-Leerlauf. Ununterbrochen wechseln Nah- und Fernsicht, Blickwinkel und Perspektive. Nichts wiederholt sich. Kein Gipfel, kein Tal, kein Kessel, keiner der großen Seen ähnelt dem andern. Überall stehen wir ausgeprägten Individualitäten gegenüber.
Eine Rangordnung der Ereignisse ist im Retezat schwer aufzustellen. Gewiss: Das Gebirge hat sein Herzstück. Es ist der großartige, 8 Quadratkilometer umfassende Bucura-Kessel („Zirkus“) mit dem 2041 Meter hoch gelegenen Bucura-See in der Mitte, der einzigartigen Seenterrasse und dem Bucura-Tor (Poarta Bucura) auf der Westseite und der Peleaga auf der Ostseite. Das ist in unsern Karpaten einmalig.
Schwerpunkte gibt es noch. Die bekanntesten sind der Galeş-Kessel (Galeş-See: vierter in den Karpaten), im gesperrten Reservat der Bârlea-Kessel (Tău Negru: dritter in den Karpaten; tiefster rumänischer Bergsee). Seltener sucht man den einsamen Peleguţa-See auf (an der Südostflanke der Peleaga), den beschaulich-stillen Slăvei-See und den allem Touristenlärm entrückten Großen Custura-See.

Wege im Retezat

Noch in den ersten Nachkriegsjahren waren im Retezat die „momâi“ (Steinmännlein) der Hirten die einzigen Wegzeichen. Seitdem die Hauptrouten markiert und auch die Schutzhütten ausgebaut worden sind, ist das Gebirge dem Zustrom der Touristen geöffnet. Der „Verkehr“ wickelt sich hauptsächlich auf den „Magistralen“ ab:
Pietrile-Hütte – Bucura-See – Buta-Hütte (blaues Band bis Bucura-See, dann rotes Kreuz).
Pietrile-Hütte – Galeş-See – Vârfu Mare – Baleia-Hütte (rotes Dreieck, ab Vârfu-Mare-Sattel auch rotes Band).
Pietrile-Hütte – Bucura-See – Judele – Zănoaga-See – Radeş-Platte – Gura Zlata (blaues Band bis Bucura-See, roter Punkt bis Zănoaga-See, rotes Dreieck bis Gura Zlata).
Pietrile-Hütte – Bucura-See – Slăvei-Rücken – Crucea Trăznitului – Gura Apei (blaues Band bis Bucura-See, blaues Kreuz und gelber Punkt bis Crucea Trăznitului; von hier weiter in zwei Varianten:

  1. blaues Kreuz bis Gura Apei über Zănoaga und Radeş,
  2. gelber Punkt bis Gura Apei über Lunca Berhina im Lăpuşnic-Tal).

Hier muss erwähnt werden, dass die Hütte von Gura Apei 1971 einem Brand zum Opfer gefallen ist.
Markierte Pfade verbinden die Gipfel Retezat, Bucura, Peleaga, Păpuşa und Vârfu Mare.
Ein mit Wegzeichen (rotes Band und gelbes Kreuz) gesicherter alter Hirtenweg, der nach Uricani (Schiltal) führt, verbindet die Gipfel der spektakulären Gruniu-Kette: Custura, Valea Mării (Măriei), Ciumfu, Lazăru, Văcarea. Der schöne Pfad wird leider von den meisten Retezatbesuchern links liegen gelassen.
Von der Baleia-Hütte führt ein bezeichneter Weg (blaues Dreieck) über den Dealu Cozmii, die Stâna din Râu und die Custura zur Buta-Hütte. Wir erwähnen ihn, weil er im Abschnitt Stâna din Râu – Custura dem Wanderer in einem kühnen 900-Meter-Aufstieg über unzählige Serpentinen faszinierende Bilder filmartig vorführt. Reschitzaer haben den Pfad mit dem Namen „Tibetanerweg“ belegt. Übermannsgroße „momâi“, wie man sie anderswo kaum mehr findet, deuten darauf hin, dass schon in grauer Vorzeit Hirten Siebenbürgens, des Banats und Olteniens über diesen Hochpass (2400 Meter an der Custura) gezogen sind.
Das Kalksteinmassiv Piule-Iorgovan ist von der Buta-Hütte gut zu erreichen. (Fälschlich wird dieses Gebirge „Kleiner Retezat“ genannt. Gheorghe Niculescu stellt in seiner Studie „Munţii Godeanu“ den Fehler richtig. Er nennt die Kalksteingruppe Stănuleţi-Iorgovan-Albele-Piule-Pleaşa „Piule-Iorgovan-Massiv“, fügt aber auch den kristallinen Drăgşan zur Gruppe hinzu und verschiebt damit die Grenze zum Retezat noch weiter nach Nordosten [Plaiu Mic]).

„Kopfsprung“ oder Anmarsch von weither?

Wer rasch zum „Bucura-System“ und den großen Gipfeln vordringen will, wird die Pietrile-Hütte zum Startpunkt seiner Retezat-Unternehmen wählen. Diese „Kopfsprungvariante“ hat die meisten Anhänger. Am zweiten Tag des Urlaubs schon drei Gipfel „gemacht“ zu haben (Retezat, Bucura, Peleaga), das lässt sich hören.
Beliebt ist auch der „Einzug“ über die Buta-Hütte.
Weil sie vor einem beschwerlichen zweiten Tag Angst haben, meiden die meisten Retezatgäste die Baleia-Hütte. Zu Unrecht. Das Gruniu-Panorama, anschließend der „Tibetanerweg“ oder der Vârfu Mare und der Galeş-See lohnen reichlich die Mühen eines langen Marsches Baleia – Buta oder Baleia – Pietrile.
Man entschließt sich selten dazu, von Gura Apei aus das große „Umfassungsmanöver“ durchzuführen: mit dem Ziel Buta-Hütte über die Borăscu-Platte, die Galbina, die Paltina (Suru), die Stănuleţi, den Iorgovan, die Albele, den Drăgşanu auf einem hohen „plai“, der uns die Riesen mit den grauen Schafpelzmänteln (şube) langsam näher bringt, uns zudem Einblick ins Cerna-Tal gewährt und uns mitten durch das sagenumwobene Iorgovan-Gebiet führt.
Stimmt es, dass wir ins Gebirge gehen, um zu sehen und zu erleben? Wenn es so ist, dann sind die im Grunde nicht allzu strapaziösen Hochwege der „Retezat-Satelliten“ Ţarcu, Bloju, Godeanu und Iorgovan doppelte Erlebnisse: Sie lassen uns die Einsamkeit der vielleicht unberührtesten rumänischen Karpatenmassive auskosten und zeigen uns die Felsenburg des Retezat, unsern Traum und unser Ziel, in immer neuem Licht und immer greifbarer Gestalt. Darum: Loben wir den Retezat, den Unvergleichlichen. Aber loben wir auch seine „Satelliten“. Sie sind der Samstag vor dem Sonntag.

Ich glaube nicht, dass es noch einen zweiten Karpatengipfel gibt, der mit so viel Seen geschmückt ist wie der Bucura-Berg im Retezat… Auf absteigenden Stufen reihen sich die Seen: wie klare, tief-verträumte Augen, die unten, am Waldrand, von dunklen Latschen- und Fichtenbrauen geziert sind. Silberne Wasserfäden mit dichtgesponnenen Kaskaden verbinden die Meeraugen. Der größte Bergsee in diesem Bezirk aber liegt abseits und allein in einem mächtigen Kessel: der riesige Bucura-See…

Bucura Dumbravă

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 72, S. 96 – 107)

Seite Bildunterschrift
 
96 Der Granitberg Bucura II über dem Pietrile-Tal.
99 Karte: Godeanu-Retezt-Gruppe
100 Der Weg zum Retezat (Gipfel) führt über den 2251 Meter hohen Retezat-Sattel. Drei markierte Pfade laufen hier zusammen. Nicht die Hochgipfel überraschen an dieser Stelle, sondern der Einblick ins „verbotene Paradies“ (das Reservat, im Bild nicht sichtbar).
102 Die vorletzte Stufe und Seenterrasse des „Bucura-Rundtheaters“ mit dem sogenannten Florica-See (Westseite des Riesenkessels). Im Hintergrund bauen sich die dunklen, wie vom Rauch geschwärzten Granitmassen des Judele II und der Poarta Bucura auf.
104 Keine „Steinmännlein“, sondern richtige „Steinmänner“ und sogar mehr als mannshoch sind die „momâi“ auf dem „Tibetanerweg“.
105 So sieht der Retezat im Frühjahr aus: Peleaga (rechts) und Păpuşa, von der Custura Retezatului aus gesehen. Die beste Zeit für Winterbegehungen (und Skitouren) sind die Monate März, April.
106 – 107 Das bietet der Anmarsch von der Baleia (NO) her: stundenlanges Aug-in-Aug mit der fotogenen Gruniu-Kette und schließlich einen überwältigenden Ausblick auf die Gipfel und Grate rings um die Peleaga, wo das Herz des Retezat schlägt.
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