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Unser erster Berg

von Walter Kargel

Erste Bergfahrt. Ich war zehn und kannte die Berge nur aus den Erzählungen meines Vaters, der sich gelegentlich Bergstiefel und Rucksack lieh und mit seinen Freunden loszog. Nun durfte ich zum ersten Mal mit. Der Berg geruhte zunächst, sich nicht vorzustellen. Die „Waschküche“ reichte bis tief in den Wald hinab. Gemächlich stiegen wir gepflegte Serpentinen bergauf, der Wald blieb allmählich zurück. Ungeduldig lief ich voraus. Plötzlich erstarrte ich: Da stand ich nun auf einem Sattel, der Nebel teilte sich, er war jetzt unbegreiflicherweise unter mir, und in einer Lücke zwischen zwei Felspfeilern sah man das Tal, winzige Häuser, die Eisenbahn, die sich geräuschlos dahinschlängelte. „Wir sind – über den Wolken!“ Ich konnte nur stammeln.
Am nächsten Morgen standen wir auf der über den Abgrund ragenden, von der Sonne beschienenden Terrasse der kleinen Schutzhütte. Tief unter uns wogte ein Wolkenmeer, aus dem nur die höchsten Berggipfel wie Inseln hervorlugten. Greifbar nahe wilde Felsen. Die Luft war frisch, und die Latschen, der rot leuchtende Almenrausch, die blauen Veilchen, das Moos, der Moder, die nasse Erde unter dem Krummholz – alles duftete: herb und fremd und betörend.
Viele Jahre später: die erste Bergfahrt mit meinen Kindern. Die kleine Gerda lief voraus, genau wie ich bei meiner ersten Bergfahrt. Es hatte die ganze Nacht geregnet, tropfnass war der Wald, und die Wolken hingen noch schwarz über den Felsen. Der letzte Schnee fiel dem April zum Opfer. Und da trat Gerda aus dem dunklen Wald auf ihre erste Bergwiese hinaus. Der schwarze Boden war aufgeweicht, das Gras noch vom vergangenen Winterschnee niedergedrückt, Schneeglöckchen und Krokus noch nicht erwacht. Aber das Großstadtkind war überwältigt. Laut jauchzend begann es, mit unzähligen Purzelbäumen den sanften Hang hinunterzukollern...

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 70, S. 256 – 257)

Seite Bildunterschrift
256 – 257 Fast ungewohnt ist der Anblick, den der Butschetsch im Westen bietet, aber nicht minder schön als die Ansicht des weit berühmteren Osthangs. Die Automobilisten kennen das Westpanorama gut – von der Überfahrt Bran – Rucăr her.
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