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Neujahrserlebnis

von Bernhard Capesius

Im Jahre 1912 wurde zum ersten Mal in der Buleahütte am Wasserfall Silvester gefeiert. Wir waren vier junge Leute, die den braven Mack-Toni aus seinem Winterschlaf in Kerz geweckt und veranlasst hatten, mit uns zu der seiner Obhut anvertrauten Hütte hinaufzusteigen. Einer von uns hatte Ski mitgebracht, ein anderer Schneereifen, der dritte nur genagelte Bergschuhe, der Vierte aber war, da er verschlafen hatte, im Straßenanzug und Halbschuhen mit Gummiabsätzen zum Zug gerannt. Wir hatten Glück, bis zur Hütte war kaum Schnee, und so waren wir bald oben. Nach tüchtigem Heizen wurde es in der Küche und einem kleinen Zimmer so warm, dass wir bei dem guten Wein, den wir im Keller fanden, in ausgelassener Stimmung feiern konnten.
Am Neujahrstag machten wir dann in unserer unterschiedlichen Ausrüstung einen Ausflug zum See – eine Erstbesteigung im Winter! Der Aufstieg an der Ostseite, auf dem heutigen „Winterweg“, bis oberhalb des Wasserfalls war beschwerlich, aber er lohnte sich. Vor uns tat sich das mächtige Hochtal auf, das, umrahmt von den sich emportürmenden tief verschneiten Graten und Spitzen, unter leuchtend blauem Himmel und gleißendem Sonnenschein in überwältigender Schönheit dalag. Diese Schönheit der winterlichen Bergwelt hatten wir bis dahin noch nicht erlebt. Glücklicherweise war der Schnee so sehr verharscht, dass wir ohne einzubrechen bis zum See gelangten, dessen Eisfläche ganz von strahlendem Weiß bedeckt war. Auch beim Abstieg benützten wir weder Ski noch Schneereifen – an steilen Stellen genügte der Hosenboden.
Als wir dann am nächsten Morgen schon sehr früh aufbrachen, um den Zug in Kerz zu erreichen, herrschte klares Frostwetter. Die Sterne leuchteten noch flimmernd, die Westwand des Tales aber lag im Licht des unsichtbar abnehmenden Mondes. Zum Aufbruch gerüstet, stand ich einen Augenblick vor der Hütte und genoss den Anblick des tief verschneiten Tales bis hinauf zu den himmelhohen Graten. Da – was war das? Über einen dieser Grate schob sich von Osten langsam eine silbergraue Scheibe vor, ganz deutlich und klar in ihren Umrissen, aber ohne Licht und Glanz. Konnte das der Mond sein? Und plötzlich erschien am oberen Rand der Scheibe ein leuchtend heller Punkt, der immer größer und größer wurde, bis schließlich die ganze schmale Mondsichel in strahlendem Licht dastand. Nie wieder ist mir das seiner Romantik heute völlig entkleidete Gestirn in so zauberhafter Schönheit erschienen.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 70, S. 248 – 249)

Seite Bildunterschrift
249 In der Nähe der Bâlea-(Bulea-)Wasserfälle steht eine der ältesten Hütten der Fogarascher Berge, „Bâlea-cascadă“ („Bulea-Fälle“).
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